Augentrost

 

                               Auszug aus

                             Der Einsiedler

Der Sommer ging zu Ende, lange Schatten des Herbstes bedeckten den See. Weiterhin nach Lars fragen war zwecklos, noch einmal einen langen, kalten Winter ohne ihn verbringen war undenkbar. Von einer nagenden Ahnung gepeinigt, gehetzt von zunehmender Ungewißheit, hielt Iona weiterhin Wache an Wegen und Gassen. Jeder Reisende, Mann oder Frau, wurde gefragt:

     „Habt ihr Lars, den Schweden, gesehen?“

 Eines  spät  Nachmittags,  als  die  Sonne  über  dem  Tagish Hochland stand, erschien Lance Briggs. Sie erkannten sich sofort.

    „Wo ist Lars?“ rief Iona schon von weitem.

    „Schlechte Nachricht,“ stieß Briggs zwischen den Zähnen hervor.

     Bestürzt eilte sie ihm entgegen.

    „Schlechte Nachricht?“ wiederholte sie wie vor den Kopf geschlagen.

    „Sehr schlecht,“ murmelte Lance.

    „Ich verstehe Sie nicht. Ist ihm etwas zugestoßen?“

    „Er ist tot.“

    Briggs erwartete einen Ausbruch, doch nichts dergleichen geschah. Iona erstarrte sichtlich, in ihrem Gesicht spiegelte sich weder Verzweiflung noch Überraschung; nur Spuren einer keimenden Ahnung huschten von Schläfe zu Schläfe. Sie starrte wie versteinert auf den Mann, den sie als den Fluch ihres Lebens betrachtete. Sie fragte mit gezwungener Ruhe:

    „Tot, mein Lars ist tot?“

    Dann stieß sie einen herzerschütternden Schrei aus:

    „Lebt nicht mehr, mein Lars lebt nicht mehr? Wie ist das möglich?“

    „Er stürzte in einen Abgrund, in der Nähe von Carmacks.“

    „Hat man ihn gefunden?“ wollte Iona wissen.

    „Noch nicht,“ kam eine zögernde Antwort.

    Dann entfuhr Briggs eine Bemerkung, die Iona nicht gleich verstand.

    „Was haben Sie eben gesagt?“

    „Lars stürzte nicht, er wurde gestoßen.“

    „Von wem?“

    „Von  Les  Hunt,  seinem Teilhaber. Übrigens mag  Lars nie gefunden werden.“

    Als er Ionas fragenden Blick sah, erklärte er:

    „Sein  Fall  löste einen  Geröllsturz  aus,  der  ihm zum Grab wurde.“

     Entsetzt schaute Iona auf Briggs. Die schlimme Nachricht wollte nicht gleich einsinken. Sie roch Unrat, etwas kam ihr, schlicht gesagt, hingestellt vor. Aber was und warum? Lars Elblang, ihre erste Liebe, besaß die Gewandtheit eines Dickhornschafes. Ihn in einen Abgrund stoßen war gewiß kein leichtes Spiel, vor allem in Anbetracht der angeblichen Feindschaft zwischen ihm und dem Täter. 

     Die Nachricht,  wie erwähnt,  erschütterte Iona zutiefst.  Sie erweckte Gefühle in ihr, welche sie bisher nicht kannte.

„Dieser Les Hunt ist Larses Teilhaber?“

„War, Iona, war. Ihr Abkommen, welches mir bekannt ist, besagte folgendes: Sollte einer der Teilhaber sterben, fällt dem anderen dessen Teil zu.“

Iona nickte, sie verstand.

„Wurde der Unfall gemeldet? Sind Zeugen vorhanden?“

Briggs warf den Kopf zurück, die Frage schien ihm zu mißfallen. Er antwortete zögernd:

„Eine polizeiliche Untersuchung fand statt.“

„Und?“

„Sie fanden keine Spur von einer Untat. Ihr Befund hieß: Von einem Erdrutsch verschüttet.“

Iona kräuselte bedenklich die Stirn. Sie wollte etwas sagen, doch Briggs kam ihr voraus:

„Angeblich beteuerte ein alter Indianer alles gesehen zu haben,“ platzte er heraus, eh er sich auf die Zunge biß.

„Wo kann ich ihn finden?“

„Er verschwand spurlos.“

Am nächsten Morgen bestieg Iona das erste Boot nach Carmacks. Sie unternahm die Reise mit leichtem Gepäck. Was getan werden mußte, sollte nicht lange dauern. Während sie an der Reling stand, griff sie hin und wieder in ihre Handtasche. Der kalte Stahl in ihrer Hand verstärkte ihr Selbstvertrauen. Ein Lächeln huschte dabei über ihr Gesicht, das sich verklärte.

„Alles wird gut, Großvaters Dolch wird gute Arbeit leisten,“ murmelte sie.

Am  folgenden Morgen verließ Iona  das Boot in  Carmacks wo Miner und Glückssucher umherstreiften, das heißt, herum lungerten, die auf den Flügeln der Hoffnung verheißenden Gerüchten folgten.

Obwohl das ungewohnte Gemenge Iona unangenehm berührte, wich sie kein Iota von ihrem Vorhaben ab.

Nachdem sie im Hotel Unterkunft gefunden hatte, ging sie die Umgebung zu erforschen. Die Waffe trug sie in der räumigen Tasche. Hin und wieder liebäugelte sie mit dem Dolch aus der Vergangenheit, welcher manches Unrecht tilgte. Iona ging auf Kundschaft.

Les Hunt finden erwies sich als einfach; er war überall bekannt. Zu ihrer Überraschung machte der Mann einen guten Eindruck. Im Gegensatz zu Briggs Beschreibung drückte sein Gesicht, ja sein ganzes Wesen, eine freundliche Gesinnung aus. Zu ihrer Bestürzung besaß der Gezeichnete die Kraft eines Bären, wie dessen Behendigkeit.

„Unmöglich, den kann ich niemals bewältigen,“ sagte sich Iona.

Während sie zurück ins Hotel ging, kam ihr so manches in den Sinn. Gewalt anwenden gegen Hunt, dem offensichtlichen Kraftmenschen, kam nicht in Frage. Somit blieb nur weibliche List übrig. Verwirrt, in eine Wolke der Ungewißheit gehüllt, wanderte sie ziellos herum. Nagende Zweifel erschwerten ihre Schritte, keimende Bedenken trübten ihre Augen, die jedoch plötzlich aufleuchteten. Ein Schild, auffallend zur Schau gestellt, erregte ihre Aufmerksamkeit. Schlagzeilen über bunten Bildern luden zum Tanz ein. Damenwahl, hieß die verlockende Überschrift. Keinem Zweck gehorchend, außer vielleicht einem unbewußten Zwang, erkundigte sich Iona im Hotel nach der Bedeutung der Plakate, welche ebenfalls drinnen angebracht waren:

„Was bedeuten diese Plakate?“ fragte sie den Wirt.

„Tanzfest am Wochenende, verkündet die Werbung.“

Als er Ionas verdutztes Gesicht sah, erklärte er:

„Es ist ein alter Brauch. Zuweilen wird der Spieß umgedreht. Frauen führen die Männer zum Tanz.“

Iona überkam ein seltsames Gefühl. Ihr Unterbewußtsein wurde wach, vor allem als sie einen Blick hinaus warf.

„Findet der Tanz draußen statt?“ fragte sie.

                                 

           List of Books

                by

       Michael Eisele

 

               Excerpts from:

    

     Without Tears and other Tales

     Twelve O’Clock Sharp

    Odour of Rectitude

     Obeah

    Gentle Author

   

    Poems in German

            Gedichte

 

      Deutsche Bücher

 

    Rufe in der Nacht

    Pangnirtung

    Der Einsiedler

    Josef Ferger

 

    Home

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Text Box: