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   „Horst Kurin, mein
  Freund und Chef, leidet an Zuckungen.“      Als er den erstaunten, ja, belustigten
  Blick Keimers auffing, setzte er hinzu: „Wir reden nicht von nervösen Bewegungen, was man einen
  Tick nennt, sondern von ständigen, krampfartigen Verrenkungen, die nicht bloß
  Erstaunen hervorrufen, sondern beängstigend wirken können. Ich möchte Sie
  deswegen ernstlich ersuchen gefaßt zu sein, eh Ihr Fuß über die Schwelle
  seiner Gemächer tritt.“ „Keine Sorge, ich lasse mir nichts anmerken,“ versicherte
  Keimer, während seine Augen zur Uhr an der Wand glitten. Noch zehn Minuten deuteten die Zeiger an. Keimer hüstelte
  verlegen, wonach er lächelnd sagte: „Ich möchte nicht versessen erscheinen, aber ich habe es
  mir in den Kopf gesetzt dem erstaunlichen Mann die Hand zu schütteln. Ich
  weiß ja nicht einmal wie er aussieht. Mir geht es wie allen anderen, welchen
  der Name bekannt ist, jedoch die Person nicht. Soviel ich weiß bestehen weder
  Bilder noch Zeichnungen von ihm.“  Weil nickte zustimmend was Keimer zur Frage bewegte: „Was glauben Sie unterliegt der – na, wie soll ich
  sagen,  unnatürlichen Neigung so
  versteckt zu leben?“  Statt einer Antwort zeigte Weil auf die Uhr. Sie machten
  sich auf den Weg. Weil trat als erster ein, er hieß seinen Besucher draußen
  warten. „Es wird nicht lange dauern, währenddessen können Sie in
  einem der bequemen Sessel Platz nehmen,“ tröstete er. Als Keimer dort wie auf dem Sprung saß, fiel sein Blick auf
  einen Gegenstand, so eine Art Schrank, worauf das geschmiedete Abzeichen der
  Miner stand. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, indessen ihn schier
  eine Lähmung befiel. Die Sicht schob alles andere in den Hintergrund, er
  vergaß wo er war. Wie gebannt starrte er auf den Schlegel der mit dem Eisen
  ein Andreaskreuz bildete. Ohne sich dessen bewußt zu sein fesselten ihn
  eigentlich die zwei daneben liegenden Geräte. Wirre Gedanken begannen tief in
  seinem Inneren zu stöbern, sie wanderten weit zurück in die Vergangenheit, in
  ein fernes, fremdes Land. Er schüttelte sich geradezu. Wie konnte das Wahrzeichen der Miner solch eine Bestürzung in ihm auslösen? Freilich erweckte es gewisse Erinnerungen an unvergeßliche Tage, die zum schmunzeln, seufzen oder abwehren anregen konnten, aber aus der Fassung bringen sollten sie einem nicht. Was haftete an den Werkzeugen, die schließlich von unzähligen Bergmännern täglich benutzt werden? Eigentlich nichts sonderliches, ohne der Keilhaue sowie dem Spitzhammer links und rechts daneben. Diesen galt seine ganze Aufmerksamkeit. Je näher er sie betrachtete, um so deutlicher entfaltete sich vor seinen Augen ein längst vergessenes Ereignis. Ein regelrechter Taumel ergriff ihn beim Anblick dieser Werkzeuge, welche mit Sicherheit einst ihm gehörten. Er fuhr sich wiederholt mit beiden Händen über die Augen, als versuche er schattenhafte Bilder wegzuwischen, welche sich jedoch nicht verscheuchen ließen. Unverkennbar lag dort sein Eigentum, deutlich konnte er die kennzeichnenden, selbstgefertigten Stiele erkennen, sowie die eingebrannten Initialen P.S. Aber es konnte nicht sein, sie lagen doch Welten entfernt
  in einem entlegenen, wildeinsamen Tal der Selkirks in Britisch Kolumbien.
  Zwanzig Jahre sind vergangen seit er mit Peter Flander seine Zelte an den
  Ufern des ungestümen Downies aufstellte. Kaum eine Seele, außer ihm sowie dem
  verschollenen Freund, drangen damals so weit flußaufwärts, denn es ist ein
  rauhes und unzugängliches Gebiet. Bis in die Schatten der ragenden Eisfelder
  schleppten sie ihre Ausrüstung damals, wo sie von Grislybären belauert und
  Wölfen umheult, beharrlich nach dem Fund aller Funde suchten. Ja, Peter
  Flander, wo er blieb weiß der liebe Himmel, stöhnte Keimer. Eben wollte er sich erheben um sich zu überzeugen ob er
  träume oder ein Opfer von Schemen seiner Vergangenheit wurde, da erschien
  Weil. „Gut, Rolf, Herr Kurin ist bereit Sie zu empfangen,“ sagte
  er nicht gerade begeistert.  Nur mit äußerster Mühe gelang es Keimer sich von dem
  Anblick auf der Anrichte zu trennen, was ihm bloß bei dem tröstenden Gedanken
  gelang, eine ausführlichere Untersuchung später  zu unternehmen.  Wie Weil später berichtete trug sich dann alles so schnell
  zu, daß ihm heute noch beim Gedanken daran der Kopf schwirrte. „Du!“ rief – nein, brüllte Keimer entgeistert. „Du! Du! “ ächzte Kurin wie auf der Folter.  Im nächsten Augenblick stieß Keimer einen Schrei aus, in
  dem sich blinde Wut die Waagschale mit schriller Freude hielt. Dann sprang er
  Kurin mit einem wahren Panthersatz an die Kehle. Weil stand wie vom Donner
  gerührt da, unfähig ein Glied zu rühren. Eh er sich besann lag Kurin windend
  und blau im Gesicht am Boden, sein Hals blieb nach wie vor von  den schraubstockartigen Händen Keimers
  umklammert. Er drückte Kurin nach und nach den letzten Hauch aus dem Leib. Alle Versuche seitens Weil den eisernen Griff von der
  Gurgel des Freundes zu lösen, blieb erfolglos. Keimers Arme und Hände
  schienen aus Stahl geformt zu sein; er besaß die Kraft eines Bären, aber
  nicht minder die Entschlossenheit eines Vergelters. Endlich löste er von
  selbst die tödlichen Klammern. „So, das wär vollbracht,“ meinte er erlöst.  Weil starrte ihn entgeistert an, immer noch unfähig seine
  Gedanken zu ordnen. Mehr verdattert als anklagend stotterte er endlich
  heraus: „Rolf, wissen Sie was Sie eben verübten?“ „Ich heiße nicht Rolf,“ kam die barsche Zurechtweisung. „Aber – aber, wie dann?“ „Mein Name ist Philip Speer. Dieser hier hieß…“ mit diesen
  Worten stieß er einigemal nach der vermuteten Leiche auf dem Boden.  „Der Schurke heißt Peter Flander.“      | 
 
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                             Zweite Gnade               Auszug aus         Rufe
  in der Nacht                  | 
 
