Die Stimme des Tulameens Auszug aus Rufe in der Nacht |
„Eines Morgens im Juni merkte ich eine
Veränderung in Rolfs Verhalten; er wurde gesprächig, doch seltsamerweise
redete er mit belegter Zunge. Trotz meinem Widerstreben ihn zu beachten,
erzeugte sein Gebaren ein kribbelndes Gefühl in mir. Was er wohl im Sinn
führt? fragte ich mich. Er hüstelte verlegen, atmetete schwer und räusperte
sich wiederholt. Unglaublich, er lächelte sogar als er mir näher kam. Endlich
äußerte er sich: „ ,Else, ich denke in letzter Zeit
viel über uns nach,‘ druckste er heraus. „ ,Ich auch,‘ gestand ich
unwillkürlich, aber vorsichtig. „ ,Wir sollten uns mal ernsthaft
aussprechen,‘ meinte er. „ ,Ich bin bereit,‘ erwiderte ich. „Seine Augen wanderten von mir zu den
sonnigen Hügeln, dann zu einer Schar krähender Raben. Es war noch früh am
Tag. Der unausbleibliche Wind hielt sich noch zurück. Der Morgen hatte Gold
im Mund. Schließlich meinte Rolf: „ ,Nicht hier. Da ich heute nicht nach
Princeton gehe, könnten wir die Gelegenheit ausnützen zu einer Wanderung.‘ „Trotz meiner Verwirrung gab ich meine
Zustimmung. Im warmen Sonnenschein gingen wir am Ufer des gurgelnden
Tulameens entlang, einem Ziel entgegen welches ich mir leicht vorstellen
konnte. Wir sprachen kaum ein Wort, eins schien zu warten bis das andere etwas
sagte. Die Umwelt geriet allmählich in Bewegung; der Wind kam auf, er begann
die Baumkronen zu biegen. Wie erwartet verhielt Rolf seine Schritte an der
denkwürdigen Stelle, wo der Fluß sich von Ufer zu Ufer stürzt, unschlüssig in
welcher Richtung es weitergehen sollte.“ Else stöhnte herzergreifend, dann fuhr
sie fort: „Was dannn geschah ist mir heute noch
unerklärlich. Rolf nahm eine bedenkliche Haltung an, er warf verdächtige
Blicke auf mich, offensichtlich unsicher über seinen nächsten Schritt. Ich
beobachtete ihn argwöhnisch wie er dort stand, stumm vor sich hinstarrend,
von Absichten bedrängt, die ich nicht erraten konnte. Während ich ihn nicht
aus den Augen ließ, stieg mir das Blut ins Gesicht, mein Puls fing an zu
hämmern, die Schläfen pochten beihnahe hörbar. Sein Blick wanderte von mir zu
den sonnigen Bergen. „Die Biegung, an welcher wir so viele glückliche Stunden verbrachten, wo mein Jawort jubelnd gegeben wurde, nahm plötzlich eine unheilvolle Stimmung an. Auch Rolf schien verdutzt zu sein. Er holte tief Luft, trat von einem Fuß auf den anderen, während er mit der Hand über das Gesicht fuhr. Dann wandte er sich geradewegs mir zu. Im nächsten Augenblick gab er sich einen Ruck, wonach er mit ausgestreckten Armen mir entgegen kam. Dieser unerwartete Schritt, unter den Umständen höchst unangebracht, wies ich mit mehr Gewalt zurück als beabsichtigt. Ich stieß ihn heftig von mir. Er strauchelte rückwärts dem Abgrund entgegen, in welchen er mit einem Schrei des Entsetzens stürzte.“ „Um Himmels Willen,“ rief Frau Reusle. Sogar der gelassene Vater vermochte
seinen Schreck nicht zu verbergen. Trotzdem gelang es ihm ruhig zu fragen: „Was geschah dann?“ „Gepackt von einem lähmenden Entsetzen stand ich dort wie angewurzelt, unfähig ein Glied zu rühren. Nur ein Gedanke beseelte mich; es mußte ein Alpdruck sein, nichts weiter, der mich unverzüglich verlasse. Meine Hände, noch ausgestreckt um Rolfs Fall zu verhindern, fielen schlaff herab. Es mag unglaublich klingen, aber ich brachte es fertig mich in eine Phantasiewelt zu versetzen, in der alles, sogar der tosende Fluß in der Schlucht, unwirklich erschien. Der Tulameen hörte sich anders an, wie die Schreie eines Menschen der verzweifelt um Hilfe ruft. Während ich gewaltsam versuchte den vermeinten Traum abzuschütteln, wuchs die Wehklage unter mir an. Sie wurde lauter und beharrlicher, es klang wie eine flehende Stimme aus dem Jenseits. „Dann hörte ich wie mein Name gerufen
wurde. Lauter, eindringlicher dröhnten die Rufe an meine Ohren, was mich
veranlaßte sie mit den Händen zu bedecken. Trotzdem vernahm ich das
erbärmliche jammern unvermindert. Ungläubig schüttelte ich den Kopf; es war
unmöglich, kein Gewässer, nicht mal der launische Tulameen, konnte so
klagen.“ Else unterbrach ihren wunderlichen
Bericht. Sie betrachtete ihre Eltern bedeutungsvoll. Beide saßen wie auf
Nadeln, jedoch sie verbargen ihre Ungeduld und Bestürzung mit Bedacht;
vielmehr Herr Reusle tat es, seine Frau hatte Mühe sich still zu verhalten.
Sie zupfte am Rock, bewegte sich von Seite zu Seite und machte Anstalten
Elses Erzählung zu unterbrechen. Nur die erhobene Hand ihres Mannes,
verbunden mit einer mahnenden Miene, hielt sie davon ab. Else fuhr fort: „Ihr haltet mich sicherlich für eine alberne Gans, die Zuflucht im Reich der Hexerei suchte und zauderte, wenn Geistesgegenwart nötig war. Ja, ich fühlte mich wie betäubt, in einen Bann geschlagen von dem unglaublichen Ereignis. Schließlich faßte ich den Mut mich dem schroffen Abhang zu nähern. Deutlich hörte ich nun meinen Namen. Es war Rolf, der versuchte den Lärm des tosenden Flußes zu übertönen und verzweifelt nach mir rief. Ich konnte es kaum fassen; mein Mann lebte noch, die ungestüme Strömung hatte ihn nicht fortgerissen. Wir begannen uns zu verständigen. Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, hörte ich ihn, vorausgesetzt er rief mit der Stimme eines Stentoren. Wie es schien hatte er sich geistesgegenwärtig an einen Felsvorsprung geklammert, wo er nun halb hing, halb stand. „ ,Wie lange ich hier aushalten kann, weiß ich nicht,‘
ließ er mich wissen. „Mit eigener Kraft hoch klettern war
ihm nicht möglich, folglich mußte Hilfe von oben kommen. Zwei oder vier
starke Arme, dazu ein handfester Strick, könnten ihn sicherlich retten. Er
trug mir auf zum nächsten Haus zu eilen und dort um Hilfe bitten. Ich rannte
wie nie zuvor dem Dorf entgegen, mit pochendem Herzen und hämmernden
Schläfen, teils vor Anstrengung, aber mehr aus Schuld. Während ich ein
Stoßgebet nach dem andern ausstieß, dazu versuchte nagende Gewissensbisse zu
unterdrücken, stürzte ich vorwärts.“ Frau Reusle vermochte die innere
Spannung nicht mehr zu zügeln. Die rügenden Blicke ihres Mannes mißachtend,
plazte sie heraus: „Der arme Mann, was muß er doch für
Qualen ausgestanden haben, wie sicherlich auch du, Else. Nur daran denken
macht einem frösteln. Sag uns wie es ausging.“ Else betrachtete ihre Mutter
eingehend. Eine Mischung von Spott und Schadenfreude überflog ihre Miene, die
zusehends unergründlicher wurde. „Wie es ausging?“ Mit einem bedeutsamen lächeln mahnte
sie: „Ich bezweifle es wird euch gefallen,
aber hört zu. Als ich strauchelnd und keuchend auf dem Pfad entlang hetzte,
begannen wunderliche Gedanken in meinem Kopf zu spuken. Zwei gegensätzliche
Stimmen flüsterten in mir; eine zweifelnd, die andere fordernd. Warum kam Rolf auf mich zu? Wollte er mich umarmen oder
beabsichtigte er mich in den Abgrund zu stoßen? Hegte er versöhnliche
Absichten oder wollte er mich aus dem Weg räumen? Die Annäherung geschah so
plötzlich, überdies war sie zu heftig um als freundlich zu gelten. So ging es
hin und her. Zischelnde Kobolde saßen in meinen Ohren, sie setzten mir irre
Vorstellungen in den Kopf. |